die alltägliche Selbstverständlichkeit lesen
lesen ist ein unscheinbares Wort, klein und alltäglich. Ebenso unscheinbar ist die Praxis, die wir Lesenden mit dem Wort verbinden. lesen ist im doppelten Sinne alltäglich: dass wir weder Wort noch Tätigkeit zur Kenntnis nehmen. Im Studium nehmen wir das Wort lesen so hin, wie die Erwartung der Dozierenden diesen oder jenen Text auf nächste Woche … zu haben, in derselben unscheinbaren Weise wie Du diesen Text ..., beiläufig und ohne einen weiteren Gedanken.
Heute lese ich: Immer weniger Menschen lesen, immer mehr Menschen lesen weniger. Die Bestandsaufnahme leuchtet intuitiv ein, die Bestandsaufnahme irritiert, erfahrungsgemäss kann ich die Bestandsaufnahme bestätigen als auch widerlegen; sie wirft vorwiegend Fragen auf. Aber als Bildschirmkind, das zumindest kann ich bezeugen, habe ich die geschriebenen Sätze erst vor kurzem entdeckt, und lerne auch gerade erst zu lesen. Das war und ist auch eine Anstrengung geblieben: immer wieder zieht es mich vor die Bilder; und die unheimliche Effizienz mit der unsere Aufmerksamkeit bewirtschaftet wird, lässt vermuten, dass Gaming, Streaming und Social Media ihre ‚Märkte’ nur noch vergrössern werden. Hinzu kommt, der technische Fortschritt lässt nicht auf sich warten: die Bilderwelten werden nur noch überzeugender. Aus persönlicher Erfahrung kann ich die viel besprochene, gern beklagte, indifferent hingenommene gesellschaftliche Entwicklung also bestätigen und bestätige auch, dass das geschriebene Wort mir wiederholt eine Zumutung ist – doch woher der Sog der Bilder?
„Einfach!“, höre ich jemanden ausrufen, „Bilder erfassen wir intuitiv, schnell, mühelos. Die Augen sind unser wichtigstes Sinnesorgan. Kombinieren wir dann Bild und Ton lässt sich dem bezüglich intuitiver Einfachheit wenig entgegensetzen. Unsere Kognition ist darauf ausgelegt.“ Der Mann, der unbemerkt in den Raum getreten war, steht zu mir an den Tisch, an dem ich diesen Text gerade schreibe. Er hat lange, dunkelbraune Haare, die ihm bis unter die Schultern reichen, ist bärtig, sieht leicht verwildert aus, dicke Augenbrauen, kleine dunkle Äuglein, ein Robinson Crusoe aus der Corona-Quarantäne. Wie die Ruhe selbst, dann abgelenkt, dann wieder nervös steht er da, blickt zu mir hinunter auf mein noch spärlich beschriebenes Blatt; alles während er sich langsam und immer wieder, mit dem kleinen Finger der linken Hand, innehaltend, über die linke Augenbraue streicht. „Deine Beschreibung ist ganz nett, aber merkst du nicht, was du deinen Lesern abverlangst? Kann doch ein Bild so einfach sein.“ Ich versuche meinem Gegenüber zu erklären, dass uns Worte in ihrer Schlichtheit einen viel grösseren Spielraum bieten. Sie bieten uns ein Gerüst zum Klettern und die Möglichkeit zum Sprung. Sie füllen uns nicht aus, aber warten darauf, dass wir sie füllen. Sie schenken uns die Freiheit und den freien Fall – etwas, das ein Bild, hier, um es in seiner langweiligen Schlichtheit und seriellen Praxis zu benennen: ein Selfie, nie gekonnt hätte. Mein Gegenüber nickt bedächtig, „aber genau das ist das Problem.“
Mühsames lesen und müheloses Beschauen sind Gegensätze. Genauso lässt sich die tragende Erzählung von der zu tragenden theoretischen Abhandlung unterscheiden. Der Unterschied liegt im Anspruch. Der Anspruch einer theoretischen Abhandlung ist textlich verankert und wird dem Leser aufgezwungen; auch besteht der Anspruch, den der Leser an sich als Leser stellt. Aber sind einfache Texte wirklich einfach, oder sind sie einfach zu über-lesen? Liest sich oder überliest sich eben vorgeführtes Zwischenspiel? Erinnerst Du dich an die Handlung? An den Wortwechsel? An Inhalte? Würdest Du eine Auflistung der relevanten Punkte bevorzugen? Wie würden diese lauten?
Es heisst, die Form würde dem Inhalt dienen; aber Inhalt ist Form und Form ist Inhalt. Die Frage der Lesbarkeit ist perspektivisch und rein pragmatisch, will heissen: die Unterscheidung zwischen Inhalt und Form ist in Wahrheit eine Hierarchisierung desselben. Moderne Wissenschaft nimmt es mit der Hierarchisierung sehr streng: Sprache soll nur Werkzeug sein; in literarischen Texten gehen Form und Inhalt ineinander über: Sprache darf einfach Sprache sein – wie lesen wir welche Sätze? Sollte ich endlich zum Punkt kommen und wenn nicht, dann wenigstens zu einem Punkt?
Um meinem inhaltlichen Argument doch noch die Form zu geben, die es so dringend benötigt, möchte ich kurz erläutern, was wir unter lesen verstehen können, um daraufhin zu erläutern, was ich darunter verstehen will:
In einem zeichentheoretischen Sinn lässt sich lesen mit dem Vorgang des Deutens gleichsetzen: wir lesen/deuten Zeichen. Auch alltagssprachliche Redewendungen verweisen auf einen solchen breitgefassten Lesebegriff: Wir lesen Menschen in Gesicht und Körperhaltung, in ihrem Erscheinungsbild im Allgemeinen – in ihren Händen die Zukunft, die Zukunft auch in den Sternen; Orakel werden gelesen, die Wolken am Himmel zum Spiel oder zur Einschätzung der Wetterlage. So lesen wir unsere Umwelt wie unsere Texte und so lesen wir auch Bilder. Wer liest, erkennt. Er oder sie versucht zu lesen, um Erkenntnis zu erlangen – oder liest/erkennt in falscher Selbstverständlichkeit, was sie oder er bereits kennt, ohne sich dem Vorgang des Deutens nachträglich bewusst zu werden.
Entsprechend dieser Definition (und in manchen Fällen geradezu hirntot) lesen wir auch jene Episoden unter Episoden jener Serien unter Serien, die beide auf jene vorherigen folgten und auf welche jene nachherigen folgen werden. Wir lesen sie mit einer ähnlichen Selbstverständlichkeit wie das Sofa in unserer Wohnung, auf dem wir sitzliegend eben jene Episoden unter Episoden jener Serien unter Serien zu uns nehmen. Dem Sofa gleich erwarten Episode und Serie nicht von uns, dass wir uns bewegen. Der einzige zweckbezogene Unterschied rührt von dem Umstand her, dass Episode und Serie uns bewegen: Das Sofa unterhält nicht, Episode und Serie schon.
So ist auch der Begriff der ‚leichten Unterhaltung’ zu verstehen: Die Produkte der Unterhaltungsindustrie werden in überwiegendem Anteil darauf optimiert, den Konsumenten zu bewegen, ohne dass dieser sich bewegen muss. Geschichten folgen vertrauten Storylines und haben austauschbare Charaktere. Die Erfolgsrezepte der Unterhaltungsindustrie bewegen sich an der Schwelle zwischen bewusst und unbewusst: Zwar sind sie monoton, aber doch nicht in dem Masse, dass wir die Monotonie bemerken und uns deshalb an ihr langweilen. Aber selbst wenn wir sie bemerken und uns an ihr stören, stehen wir mit uns im Widerspruch: Wir wollen uns bewegen und wir wollen uns nicht bewegen. Exemplarisch veranschaulicht wird diese (Un)Lust an der Bewegung mit dem Internetphänomen des Memes und seinen Plattformen, der vielleicht prominentesten: 9GAG; der durchschlagende Erfolg des Memes demonstriert unseren Hunger nach kleinsten unabhängigen Einheiten von Sinnzusammenhängen – Häppchen.
Das alles und noch mehr, unsere gesamte erkennende Wahrnehmung, lässt sich als lesen begreifen, nur wie sinnvoll ist das? Die Ausweitung eines Begriffs ermöglicht uns in ihrer Konsequenz ungeahnte Vergleiche, interessante und aufschlussreiche Perspektiven. Gleichzeitig meine ich, dass es für uns heute, und insbesondere für uns Studenten, eine bessere Alternative gibt. Was also sollten wir unter lesen, wie sollten wir lesen ganz bewusst begreifen?
Im Kontext einer medialen Umwälzung und einhergehenden gesellschaftlichen Entwicklungen gewinnt das kleine Wörtchen lesen an Profil und Bedeutung. Wie über Bord Geworfene finden wir uns wiederholt und oft plötzlich in den reissenden Fluten quantitativ und qualitativ ungefilterter Informationen, den Kopf nur knapp über Wasser haltend. Die marktwirtschaftliche und auch politisch-propagandistische Bewirtschaftung unserer Aufmerksamkeit läuft auf Hochtouren. Für das Individuum, das um Autonomie bemüht ist, bedeutet das, seinen Fokus wiederzugewinnen: Weil ein Film ohne unser Wollen und unser Zutun vor unseren Augen passiert und uns deshalb sein Tempo diktiert, hindert er uns daran, zu denken. Er kapert unsere Aufmerksamkeit und verhindert damit, dass wir frei über sie verfügen. In vergleichbarer Weise funktioniert das moderne Konsumverhalten im Allgemeinen.
Wir sollten lesen in Opposition zu solchem Konsumverhalten begreifen und als die zu vermittelnde Kernkompetenz an Studierende. Üben wir sie aus, kann auch das Flimmern, die bewegten Bilder, ob Film, Sketch oder Meme, und auch das Rauschen der Tages(be)nachricht(igung)en gelesen werden. Bedingung dafür ist ein erster Schritt zurück, ein Schritt des Abstands, eine Verortung der eigenen Position und des Gegenstands, ein zweiter Schritt tritt erneut an den Gegenstand der Betrachtung heran, ein Schritt des bewussten Herantretens. lesen als ausdrücklich bewusste Technik: Wir nähern uns angenommener Zusammenhänge, ihrer Komplexität bewusst lesend, angenommen, weil nicht wissend, aber im Glauben, angenommen, weil erst noch zu erschliessen; wir gehen langsam, kein Springen, keine Flucht, aber ein Ruhen, und die sorgfältige Vermessung eines Sachverhalts. Solche Kartierung ist immer sprachlich und erfordert die relevanten Begriffe zu identifizieren und zueinander in Beziehung zu setzen, jede Selbstverständlichkeit ist selbstverständlich nur im Rahmen einer gewohnheitsbedingten, unbewussten Praxis. Den einen Wortsinn, stellt sich heraus, gibt es nicht; wichtig also, sich des sprachlichen Prozesses, aus welchem die Wörter ihren Sinn schöpfen, zu vergegenwärtigen und reflektiert zu begleiten. Gründlichkeit geht tief und hat auch eine meditative Qualität. Anstatt exzessiver Konsum, der betäubt: bewusste Aneignung, die Klarheit schafft.
Die anspruchsvolle Praxis lesen erfordert Zeit. Die Zeit soll man sich nehmen. lesen erfordert ausdauernde Aufmerksamkeit. Die Kontrolle über die eigene Aufmerksamkeit soll man sich nehmen. lesen steht im Widerspruch zur Hast. In der heute allgegenwärtigen Hektik bedeutet das die Rückgewinnung der eigenen Autonomie. lesen steht im Widerspruch zu einem paradoxen Leistungswahn mit impotentem Zahlenfetisch und geschönten Statistiken. lesen steht im Widerspruch zu schneller Befriedigung und kurzfristigem Denken. lesen braucht Zeit. Manche Texte wollen mehrmals gelesen werden. lesen will selbst gelesen werden. Das gelingt im Rahmen einer Ethik, die sich am Einzelnen orientiert, an seinen Bedürfnissen und Möglichkeiten.
lesen ist deshalb lebensfreundlich, denn das Individuum ist ein langsames, ein einzelnes unter acht Milliarden, und deshalb acht Milliarden mal langsamer; es scheitert allein an dieser Zahl, die es nicht begreifen kann. Es begreift auch nicht die nie zu begreifende Zahl an wirksamen, ineinander spielenden psychologisch-sozial-historischen Prozessen, nicht die Algorithmen und die Zettabytes an binärem Code, die in Umlauf sind. Wir alle kennen das Mantra der Efficiency und die uninspirierte Feststellung, die Welt wäre schneller geworden. Letzteres stimmt, ersteres ist wichtiger und ist Bestandteil einer uns umfassenden Konstellation: das Individuum, medial vernetzt und eingebunden, Vertreter individualistischer, demokratisch-pluralistischer, marktwirtschaftlicher – kurz: freiheitlicher Werte, ist weniger konfrontiert mit einer Beschleunigung als mit einer beschleunigten Wahrnehmung, Resultat eines relativ plötzlichen, technisch und kulturell bedingten Ausgesetztseins einer immer schon dagewesenen Zeitungleichheit: der Einzelne und sein Denken drehen sich langsamer als die Welt. In dieser für das Individuum als Individuum subjektiv beschleunigten Situation haben Informationen einen ins Gegenteil verkehrten Effekt: sie desinformieren. Informationsfluten schwemmen lebensdienliches Wissen und Nicht-Wissen weg. Wir bemerken diese Zeitungleichheit lesend und richten uns lesend neu auf sie ein. lesen funktioniert allein in unserer individuellen Zeit.
Beziehen wir hier vorangestellte Überlegungen auf unsere Situation im Studium, stellen wir vielleicht als erstes ihr bisheriges Fehlen fest. Die Texte im Studium erzwingen zwar in ihrer Komplexität und der Komplexität, der sie gewidmet sind, ein lesen, das auf oben beschriebenes hindrängt. Gerade zu Beginn des Studiums aber fehlt uns ein der studierenden Praxis gerecht werdender Lesebegriff: wir sitzen deshalb vor mühsamen Texten und wollen einfach die Inhalte, schnell. lesen ist uns lästig, denn es braucht Zeit und zwingt uns, Zeit zu nehmen. lesen ist lesen, ganz selbstverständlich. lesen als notwendiges Übel, der Text als Träger und als zu überwindendes Hindernis, um an die durch ihn vermittelten Inhalte zu gelangen. Geblättert wird nur vorwärts.
lesen aber ist kein Hürdenlauf und ein Text nichts, das zu überwinden wäre, im Gegenteil: ein Text soll erbaulich sein, er ist ein semantisches Gerüst zum Klettern. Er kann gar nichts anderes sein als Ausgang der eigenen Gedanken. lesen ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Es wäre wünschenswert, wenn den Studenten bereits zu Beginn ein entsprechender Lesebegriff vermittelt würde. Ein solches Bestreben geht im Mindesten einher mit der Unterrichtung einiger sprachtheoretischer Grundlagen, muss aber nicht an der Stelle enden.
Sein Fehlen hindert uns zum Glück nicht daran, uns einen eigenen zu bilden: lesen ist keine Selbstverständlichkeit. lesen ist schwierig. Wir begegnen Texten und sind auf uns allein gestellt, mit unserem eigenen Wissen, mit eigenen Begriffen der von fremden Autoren geschriebenen Wörter. Texte zaubern nichts Neues in unsere Welt, aber setzen, was wir zu kennen glauben, in neue Bezüge und formen es mit. Begriffe entfalten ihre Bedeutung unter Hinzunahme weiterer Begriffe, ein uns unbekannter wird erst unter Hinzunahme von uns bekannten verständlich. Begriffe bauen auf Begriffe, das in ihnen begriffene Wissen demnach auf Wissen. lesen hat deshalb eine hohe Lernschwelle: das Gefühl den Texten ausgeliefert zu sein, tritt in demselben Masse in den Hintergrund, wie die Herausbildung des eigenen kognitiven ‚Textes‘ in unseren Köpfen voranschreitet. Die Herausbildung eines solchen kognitiven ‚Textes‘ muss wohl als die Bedingung für eigenständiges Denken erachtet werden. Er ermächtigt uns, hinter den Text zu gehen, der vor uns liegt, und einzutreten in ein Hinterland unbestimmter Grenzen.
Das Hinterland hat eine fantastische wie abgrundtiefe Dimension, die uns verzaubert wie verängstigt. Das Spiel des Hinterfragens lässt sich ins Unendliche treiben und an einem Text liesse sich ein Leben lang sitzen. Seine Grenzenlosigkeit stellt uns endliche Wesen vor ein Problem. Wir, die lesen, nehmen uns Zeit und sie fehlt uns doch. Pragmatisch versuchen wir die Unbestimmtheit des sprachlichen Prozesses zu bändigen und bauen auf Annahmen, die wir selbst nicht hinterfragen: Glaubenssätze. Das betrifft unsere Weltanschauungen im Grossen wie auch unsere Seminararbeiten im Kleinen. In letzteren werden wir dazu angehalten, die rahmenden Annahmen bewusst zur Sprache zu bringen. Auf ihnen bauen unsere eigenen Überlegungen auf.
Spätestens im Arbeitsprozess, den das Schreiben einer Seminararbeit mit sich zieht, bemerken wir: lesen beginnt vor dem Text. Was weiss ich – bzw. von welchen Annahmen gehe ich aus? Was will ich wissen? Wie gehe ich vor? lesen geht über den Text hinaus: Was weiss ich jetzt? Was will ich wissen? Wie gehe ich vor? In grobem Raster lesen wir die Themenkomplexe, in welchen wir uns bewegen, und ebenso die Texte, die möglicherweise für eine intensivere Beschäftigung in Frage kommen; in die groben Zusammenhänge grosser Begriffe betten wir unser zunehmend engmaschiges lesen ein. Wir arbeiten vom Grossen in das Kleine – eine schematische, irritierend einfache Darstellung eines äusserst unordentlichen, immer wieder frustrierenden Prozesses: Wer selbst Ordnung, Wissen schaffen will, muss bereit sein, dafür durch die Unordnung zu gehen.
Um in ihr besser bestehen zu können, entwickeln wir Lesetechniken: Markierungs- und Notationssysteme, Formen der Aufbereitung von einfachen Stichworten über Inhaltsverzeichnisse bis hin zu Exzerpten, und wiederum Konzepte zu deren Ordnung. In unserer Arbeit an und mit Texten ist es unerlässlich selbst schriftlich tätig zu werden. Wir lesen, wenn wir schreiben, ganz bestimmt. Schreiben wir, wenn wir lesen?
Es mag verführerisch sein, Abschriften von Stellen anzufertigen, die wir nicht verstehen, die uns aber wichtig erscheinen: für ein Späteres. Der Sache ist damit nicht zwingend geholfen. Wir setzen uns unsere Grenzen selbst. Wir nehmen aus Texten das mit, was wir verstehen und mit dem wir arbeiten können; wir schreiben: ab einem Punkt ist Schluss.
Ich schreibe weiter: die alltägliche Selbstverständlichkeit lesen
lesen ist eine Selbstverständlichkeit, lesen ist keine Selbstverständlichkeit. Der Widerspruch will gelesen werden, aber das Selbstverständliche, das lesen wir nicht. Dass lesen keine Selbstverständlichkeit ist, war Thema dieses Textes. Dass lesen eine Selbstverständlichkeit bleibt, ist unbestritten. Das unscheinbare Wort, klein und alltäglich, wird pragmatisch gehandhabt, wie und wo es gerade passt. Das ist kein Problem, das Problem ist ein anderes: Wir leben heute zeitungleich in Selbstverständlichkeit. Die Zeitungleichheit, ein Missverhältnis zwischen Individuum und Welt, ist ein modernes Phänomen und strukturell bedingt: technisch vernetzt und eingebunden, wirtschaftlich in einem doppelten Abhängigkeitsverhältnis in Arbeit und Konsum, kulturell individualistisch mit dem Anspruch der Selbständigkeit, immer offen, pluralistisch, demokratisch, im Rennen mit der Welt, gleichauf mit der Welt. Die Zeitungleichheit taktet unseren Tag und gibt das Tempo an, sie stört unser lesen. Umgekehrt tritt, wenn wir lesen, ein Effekt der Verlangsamung ein; in Lesestunden verbannen wir Weltzeit und Weltstress, wir kehren ein in unsere eigene Zeit.
lesen bleibt klein. Wir bleiben klein. Wir hüten unsere Grenzen. Hinter den geschützten Mauern gedeiht das Leseglück, wir sollten es kultivieren. lesen als Tugend, wir üben sie nicht in barfüssiger Askese, wir haben Wollsocken an. Ziel ist, Chaos zu stiften und Ordnung zu schaffen. Ziel ist auf lange Sicht: verbesserte Lesbarkeit.
lesen ist keine Selbstverständlichkeit, der oder die Leserin oder Leser möge deshalb die alltägliche Selbstverständlichkeit lesen. Ich habe es versucht. Der Text begreift sich performativ: als öffnende Bewegung. Er ist, wie jeder andere Text, der Lesbarkeit verschrieben, aber auch ich, der Autor, lese ihn und habe noch einiges an Lesearbeit zu tun: er ist Zwischenprodukt eines Schreibens mit mir selbst, eines Briefwechsels oder auch eines über die Zeit ausgestreckten, oft unterbrochenen und wiederaufgenommenen Selbstgesprächs.
(veröffentlicht am 23. November 2020 auf JETZTZEIT, https://jetztzeit.blog/2020/11/23/die-alltagliche-selbstverstandlichkeit-lesen/)